Freitag der 22.11.1974, an diesem Tag erschien „The Lamb lies down on Broadway, in meinen Augen das Schlüsselalbum der Gabriel Ära. In dieser Aufnahme schlägt sich die ganze Kreativität einer Band nieder, die es nach der Lamb-Tour so nicht mehr gab. Es war vielleicht die wichtigste Arbeit ihrer Karriere, denn sie waren zu diesem Zeitpunkt auf dem Höhepunkt ihres künstlerischen Schaffens. Es galt als ein sogenanntes Konzept-Album da alle Titel thematisch miteinander verbunden waren, es entstand eine zusammenhängende Geschichte. Beim Genesis-Fanclub IT war zur Handlung folgendes zu lesen:
„Der Protagonist ist ein junger Puertoricaner in New York, der eines Morgens mitten in New York von einer großen schwarzen Wand verschluckt wird und nach einer Reihe weiterer surrealer Erlebnisse seinen Bruder aus dem Tosen eines reißenden Flusses rettet – oder sich selbst? Die Geschichte von Rael ist außerordentlich vielschichtig, beziehungsreich, voller Wortspiele; sie steht vielerlei Deutungsansätzen genau so offen wie sie sich einer endgültigen Interpretation verschließt. Vielleicht macht gerade dies den Zauber der Geschichte aus, dass der Hörer sie immer wieder neu und anders dekodieren kann. Von welcher anderen Band, welchem anderen Album könnte man dies behaupten?
Vieles wurde hineingelegt und herausgelesen: Es sei eine Schlüsseldichtung Gabriels, in der er (als Rael) mit seinem Alter Ego (Brother John) den Ausstieg aus Genesis erwogen habe; auch als moderne Neubearbeitung des King Lear wurde es verstanden (Rael ergibt rückwärts geschrieben Lear) – jeder weitere Blickwinkel enthüllt neue Facetten einer bemerkenswerten Erzählung.
Ein Attribut wird der Geschichte von Rael jedenfalls immer wieder beigelegt: Sperrig sei sie und erschließe sich nicht leicht. In der Tat gibt es einen stilistischen und inhaltlichen Bruch zwischen „Selling England und The Lamb“, so dass der Leser-Hörer sich neu orientieren muss, und das gleich in zweifacher Hinsicht, denn die Veränderungen in Stil und Inhalt verlaufen chiastisch. Während der Inhalt von The Lamb noch fantastischer und bizarrer wurde als die vorigen Alben, wurde der Tonfall der Erzählung deutlich nüchterner. Daher ist jene Äußerung nicht ganz von der Hand zu weisen, The Lamb sei „Genesis‘ bis dahin amerikanischstes Album“.
Mit diesem Doppel-Album verbinde ich einen Teil meiner Jugend, es hat mich nie wirklich losgelassen. Das ausgerechnet „The Lamb…“ mein erstes Genesis-Konzert war, hatte für mich dadurch eine ganz besondere Bedeutung. Bei allen frühen Genesis-Fans steht dieses Album ganz weit vorne und man möchte sagen, fast schon auf einem Podest. Wer im Übrigen mehr über dieses Meisterwerk erfahren möchte, dem empfehle ich das vor kurzem von Dr. Mark Bell erschienene Buch „Die Geschichte des rätselhaften Kultalbums“ erschienen in der Buchreihe „Album-Age“.
2008 wagte sich der US-amerikanische Sänger und Schlagzeuger Nick D’Virgilio, bekannt als Studio- und Live Musiker, an eine Neuinterpretation von „The Lamb….“. Das Werk wurde mit ausgesuchten Musikern aus Nashville eingespielt.
Wie hat er sich diesem Epos genähert? Sehr persönlich, verbunden mit großem Respekt und deutlich spürbarer Wertschätzung für dieses so wichtige Genesis Album. Seine Vorstellung zeichnet sich besonders durch eine vorzügliche, teilweise neue Instrumentierung aus. Es klingt an manchen Stellen fremd und dennoch vertraut. Man spürt das D’Virgilo sich sehr ambitioniert mit „The Lamb…“ beschäftigt hat, dabei entstand eine manchmal gewagte aber gleichermaßen außergewöhnliche Interpretation dieses Klassikers. Manche Komposition erstrahlt in neuem Licht. Ich bin positiv überrascht was aus diesem Album gemacht wurde, Respekt für diesen Mut.
Wie man unschwer heraushört ist „The Lamb…“ noch heute mein Genesis-Favorit, daher war ich Anfangs durchaus skeptisch ob dieser Versuch gelingt – Er ist gelungen und wie ich finde sogar sehr überzeugend!